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Sorabji Sequentia Cyclica

Sorabji: Sequentia Cyclica

Es ist schon an sich erstaunlich, dass sich ein Label wie Piano Classics jetzt einem so extremen Außenseiter wie dem englischen Komponisten Kaikhosru Shapurji Sorabji (1892-1988) zuwendet; und dazu noch gleich mit einem Klavierwerk, das fast 8½ Stunden dauert. Was hier vorgelegt wird, ist die erste und in jeder Hinsicht gelungene Auseinandersetzung mit einem der komplexesten Klavierwerke der Musikgeschichte.

Schrulliger Brite oder verkanntes Genie?

Kaikhosru Sorabji wird als Sohn eines indischen Geschäftsmannes und einer britischen Sängerin in Essex geboren. Zeitlebens Autodidakt, verfügt Sorabji schon in jungen Jahren sowohl über außergewöhnliche pianistische Fähigkeiten als auch enorme Kenntnis des zeitgenössischen Repertoires. Bereits frühe Kompositionen zwischen 1910-23 kommen mit bislang nicht da gewesenen, technischen Anforderungen daher, selbst wo sie stilistisch noch auf Vorbilder wie Ravel, Skrjabin oder Busoni zurückgreifen. Schnell wachsen die Werke weit über die üblichen Längen konzerttauglicher Klaviermusik hinaus. Erster Höhepunkt ist sicher das fast fünfstündige Opus Clavicembalisticum, vom Komponisten 1930 in Glasgow gespielt. Bis dahin sind lediglich 14 Werke im Druck erschienen. Sorabji belegt aber bald darauf, enttäuscht durch für ihn unzumutbar schlechte Darbietungen, seine gesamte Musik mit einem Aufführungsverbot, das er bis Mitte der 1970er Jahre faktisch durchsetzt. Neue Stücke – er komponiert bis 1982 und die kolossalsten entstehen in der Zeit des Banns – werden erst gar nicht verlegt. Das Verbot lässt er später fallen, immer noch skeptisch, ob seine Musik adäquat wiedergegeben werden könnte. – Nachdem in den letzten 30 Jahren die meisten Manuskripte Sorabjis in Computersatz vorgelegt wurden, machen sich wenige mutige und befähigte Interpreten daran, die Klavierwerke öffentlich vorzutragen und aufzunehmen – vieles harrt immer noch der Uraufführung.

Das Dies irae in achteinhalbstündiger Vielfalt

Die Sequentia cyclica super Dies irae (1948/49, Busonis Meisterschüler Egon Petri gewidmet) besteht aus 27 Variationen – bei Sorabji müssen es immer Quadrat- bzw. Kubikzahlen sein. Diese reichen von relativer Kürze über respektable Charakterstudien (Walzer, Aria, Marcia funebre…) bis zu drei gigantischen, jeweils für sich bereits abendfüllenden Stücken: einem Choralvorspiel, einer Passacaglia – ihrerseits mit allein 100 Variationen – und einer gewaltigen Quintupelfuge mit mehreren Strettas, die sich von Zwei- sukzessive bis zur Sechsstimmigkeit aufbaut. Die Partitur (377 Seiten DIN A3 quer) ist schwarz von Noten, fast immer auf mindestens drei Systemen notiert und enthält quasi das Kompendium sorabjischen Klavierwahnsinns; der Komponist hielt die Sequentia cyclica für sein vielleicht bestes Werk. Obwohl im Grunde noch tonal, wird die Vielfalt der pianistischen Texturen – gerade in den kontrapunktischen Teilen – dann auch harmonisch zu einem wilden Dschungel. Das ist schwerer zu spielen, aber viel verständlicher als das meiste der seriellen Epoche (Stockhausen, Boulez, Xenakis…); erst heute bei Ferneyhough oder Finnissy – nicht zufällig ebenfalls Briten – wird es ähnlich verwegen.

Jonathan Powell meistert das Unspielbare – völlig durchhörbar

Der britische Pianist Jonathan Powell setzt sich schon lange für weniger bekannte Klaviermusik, besonders russische zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ein und ist ein gefragter Uraufführungsinterpret. Für Sorabji hat sich Powell sehr früh interessiert – bereits seine Darbietungen der 1. Klaviersonate erreichten mindestens das gleiche Niveau wie Marc-André Hamelins legendäre CD-Einspielung. Powell hat dann insgesamt 9 CDs mit Sorabji-Werken beim hierzulande schwer erhältlichen Altarus-Label aufgenommen – zumeist Ersteinspielungen. Opus Clavicembalisticum und die Sequentia cyclica hat Powell mehrfach am Stück gespielt, letztere uraufgeführt – ein unbegreiflicher Kraftakt! Dass das auch fürs Publikum anstrengend ist, durfte der Rezensent bei der gleichermaßen genialen Wiedergabe von Sorabjis zweiter Orgelsymphonie – über 8 Stunden netto – durch Kevin Bowyer 2019 in der Elbphilharmonie erfahren. Um die durch Powell fantastisch herausgearbeiteten Feinheiten der 27 Variationen wirklich zu genießen, sollte sich der Hörer also eher Zeit nehmen – hier ein wirklicher Vorteil der Tonkonserve. Erst beim wiederholten Hören erschließt sich die oft unglaubliche klangliche Schönheit, die der Pianist ans Tageslicht fördert: Sein Anschlag wird selbst bei den Höhepunkten nie grob, obwohl Architektur und die überdimensionalen Steigerungen kompromisslos ernst genommen werden. Wie niemand sonst bewältigt Powell den intrikaten Klaviersatz scheinbar mühelos, dabei mit verblüffender Präzision: Mehr als die schiere Notenmasse wird die Polyrhythmik zwischen den einzelnen Stimmen schnell zur echten Herausforderung. Die enorme dynamische Kontrolle, gerade in der Schlussfuge, die nötig ist, um das Ganze völlig durchhörbar zu machen, ist am Klavier naturgemäß noch schwieriger als auf der Orgel und gelingt hier absolut staunenswert. Die vielen unterschiedlichen Charaktere, zu denen das Dies irae hier mutiert, trifft Powell stets auf den Punkt und mit entsprechendem historischem Verständnis.

Schwere Kost, aber mit eindeutiger Empfehlung

Das Booklet enthält einen großartigen 37-seitigen, musikwissenschaftlichen Essay Powells, der dem Hörer ohne Partitur Struktur und Eigenheiten jedes Abschnitts detailliert näherbringt. Die Aufnahmetechnik wird der ungewöhnlichen Dynamik ebenso gerecht; alles klingt natürlich, lediglich ein wenig trocken. Vergessen Sie Schuberts himmlische Längen – jetzt wird es höllisch, aber gleichermaßen beglückend. Der Preis von nur zwei normalen CDs für eine 7 CD-Box dürfte der Neugier der Klaviergemeinde sehr entgegen kommen – Prädikat: besonders wertvoll!

Martin Blaumeiser [25.02.2020]